aus: Brigitte, 08.08.2024
Warum Sensibilität keine Schwäche, sondern deine Superpower ist
von Merle Blankenfeld
Wer sensibel ist, hat in unserer auf Stärke und Leistung ausgerichteten Welt oft wenig Platz. Warum wir dringend umdenken sollten und wieso es verdammt mutig ist, sehr viel zu fühlen.
„Sei nicht so empfindlich“, „Du brauchst ein dickeres Fell“ – wie oft musste ich mir in meinem Leben schon solche oder ähnlich schlaue Sprüche anhören. Ich gehöre zu den Menschen, die sehr viel fühlen, und diese Gefühle in der Regel auch nicht verstecken können. Ich bin schnell verletzt, und ja: auch beleidigt, traurig und oft unsicher. Ich mache mir ständig Gedanken, dass jemand wütend auf mich sein könnte, weil er oder sie meine Nachricht nicht gleich beantwortet. Ich werde schnell emotional und kann kaum einen Film, eine Serie oder sogar Doku gucken, ohne dass mir die Tränen kommen – egal, ob es um ein Liebesdrama, Tierschutz oder auch nur um einen stressigen Arbeitstag geht.
Das alles ist manchmal anstrengend – für mich und sicher auch für mein Umfeld. Aber auf der anderen Seite bin ich auch sehr empathisch, kann gut mit anderen mitfühlen, selbst wenn ihre Situationen und Lebensstände mir eigentlich gänzlich fremd sind.
Brauchen wir wirklich noch mehr Härte in dieser Welt?
Denn das ist die Kehrseite der Medaille: Wer super „tough“ ist, ein „dickes Fell“ hat und so schnell nichts an sich ranlässt, baut diese Mauer auch im Umgang mit anderen auf. Und braucht diese verrückte Welt voller Autokraten, Krieg und Radikalisierung wirklich noch mehr Menschen, die ihre Gefühle unterdrücken und Härte zeigen? Sicher nicht.
Mitgefühl ist ein sehr unterschätzter Wert in unserer Gesellschaft. Es mag vielleicht manchmal einfacher sein, die Augen vor dem Elend der Welt zu verschließen. Aber wenn alle Menschen das ständig tun würden, wie sollte sich dann etwas ändern? Denn Veränderungen werden meist von denen angestoßen, die entweder selbst etwas Schlimmes erlebt haben oder mit denen mitfühlen können, die leiden oder unterdrückt werden.
Sensibel zu sein ist alles andere als eine Schwäche
Statt Sensibilität und Hochsensibilität und alle damit einhergehenden Merkmale als Schwäche abzutun, könnten wir lieber mal überlegen, wie verrückt es eigentlich ist, jemanden, der seine Emotionen zulässt und mit anderen mitfühlt, als schwach zu bezeichnen. Denn was soll bitte schwach daran sein, unangenehme Gefühle wie Angst, Wut, Scham oder Trauer auszuhalten?
Stattdessen braucht es ganz schön viel Stärke, um mit starken Emotionen umgehen zu können, sie zu akzeptieren und daraus etwas zu lernen. Wenn wir unsere eigenen Gefühle nicht reflektieren, sondern immer alles wegdrücken, das uns gerade nicht in den Kram passt, können wir uns kaum weiterentwickeln – weder individuell als Mensch noch als Gesellschaft.
4 Stärken sensibler Menschen
Wer viel fühlt, kann auch viel. Diese vier Dinge fallen sensiblen Menschen besonders leicht und zeichnen sie aus:
1. Sie kennen sich selbst besser
Wer keinen Filter für seine Gefühle hat, lernt sich selbst ziemlich gut kennen – ob man das nun möchte oder nicht. Das bedeutet aber auch, dass sensible Menschen ihre Bedürfnisse sehr genau kennen und wissen, was ihnen guttut und was nicht. Denn wenn jemand seine Gefühle nicht annehmen und verstehen kann, wie soll er dann wirklich wissen, was ihn als Menschen ausmacht und was er braucht?
2. Sie sind empathisch
Die Feinfühligkeit stoppt bei sensiblen Menschen eben nicht, sobald es nicht mehr um sie geht. Auch die Stimmungen und Emotionen anderer Menschen können sie ziemlich genau aufspüren und vor allem nachvollziehen. Das macht sie zu guten Zuhörer:innen und beliebten Ratgeber:innen im Familien- und Freundeskreis. Wer sensibel ist, hat meistens außerdem einen ziemlich guten Radar für Vibes und Stimmungen in einer Gruppe.
3. Sie sind kreativ
Viele Menschen, die sehr einfühlsam und emotional sind, haben eine große Fantasie und oft einen Hang zu Kunst und Kultur. Das heißt nicht, dass jede sensible Person selbst passionierte:r Künstler:in ist, aber zumindest interessiert sie sich vermutlich für die schönen Dinge des Lebens, für Bücher, Interior Design oder schöne Bilder. Ihre große Vorstellungskraft macht sie sehr kreativ – in den verschiedensten Bereichen.
4. Sie sind sehr akribisch und detailorientiert
Wer sehr sensibel ist, reagiert meist intensiv auf Kritik. Negative Kritik setzt empfindsamen Menschen schnell zu (da ist es wieder, das fehlende dicke Fell), für Lob sind sie sehr empfänglich. Und da sie sich Kritik genau wie alles andere seeehr zu Herzen nehmen, arbeiten sie in der Regel ziemlich gründlich und legen großen Wert auf Details. Durch das ständige Grübeln und „Overthinken“, das viele sensible Menschen nicht abstellen können, haben sie einen sehr hohen Anspruch an sich selbst – der aber dafür oft zu ziemlich guten Ergebnissen führt.